Die «vier Jahreszeiten» einer Übung

Atem- und Bewegungsübungen nach Middendorf sind einfache, zunächst vorgegebene, später immer freiere Bewegungsweisen, deren jede den Atem in vielfältiger Weise anspricht. Kernstück des Übens ist es, den Atem zur bewussten Erfahrung werden zu lassen. Eine Übung durchläuft dabei, wenn sie ohne Hast ausgeführt werden kann, vier ineinander übergehende Phasen, die man ein wenig mit den Jahreszeiten vergleichen kann.

Frühling – beginnen und eintauchen
Nachdem die Übung vorgezeigt wurde, beginnen wir, die Bewegungsform für uns selbst umzusetzen und zu entdecken. Aus unserem individuellen So-Sein, unserer konkreten Verfassung heraus antworten Atem, Körper, Seele und Geist auf die Übung. Vielleicht tauchen irgendwo Schwierigkeiten auf – ein runder Kreis gerät zum Oval oder „holpert“, eine Schulter will sich nicht recht in die Bewegung schicken. Vielleicht werden wir von Gedanken oder Gefühlen abgelenkt, fragen uns plötzlich, wie die Übung nochmal gleich ging… Es dauert eine Weile, bis wir uns im Körperempfinden und in der Bewegungsweise eingefunden haben, darin „eintauchen“ können und spüren, wie die Übung beginnt, ihre Wirkung zu entfalten. – Alle diese individuellen Reaktionen, unsere Art, uns die Übung anzueignen und sie zu der „unseren“ werden zu lassen, auch unsere Auseinandersetzungen mit ihr, sind wertvolle Bestandteile des Übens.

Sommer – entfalten und freigeben
Irgendwann sind wir ganz „eingetaucht“ in die Übung, haben unseren Frieden gemacht mit den „Holprigkeiten“ und das Ausführen der Bewegung geht nun schon geschmeidiger, so dass wir uns in der Aktivität auf beschwingte oder ruhige Art getragen fühlen und in eine „bewegte Ruhe“ kommen können. Indem wir uns jetzt der Übung ganz überlassen und mit unserer inneren Anwesenheit offen für sie sind, stellt sich irgendwann unsere für heute zentrale Erfahrung mit dieser Bewegungsweise ein. Die Übung beginnt, uns „etwas zu sagen“ und sich zu entfalten. Dieses Entfalten ist individuell, persönlich, es kann uns bisweilen sehr überraschen. Denn es handelt sich hier um Erfahrungen, die aus dem bisher Unbewussten/Ungewussten aufsteigen. Wenn es dann gelingt, die Erfahrungen nicht festzuhalten, sondern sie einfach dasein und auch wieder gehen zu lassen, kommt irgendwann die Übung auf natürliche Weise zu ihrem Ende – wir sind gesättigt, schliessen das aktive Bewegen ab und kommen ins Nachschwingen.

Herbst – ernten und entgegennehmen
Nachdem die äusserlich sichtbare Bewegung abgeschlossen ist, nehmen wir uns Zeit, um innerlich nachzuspüren und die Nachwirkungen der Übung auf unseren Atem, unseren Körper und unser inneres Leben wahrzunehmen und an unser Bewusstsein anzuschliessen. Im Erspüren des inneren Nachwirkens der Bewegungsweise „setzt es sich“, entfalten sich die Wirkungen im Spiegel unseres Atems nochmals neu und oft mit dichter innerlicher Bewegtheit und Lebendigkeit. Im Nachschwingen „ernten“ wir, können uns von dem, was die Übung uns erschlossen hat, beschenken lassen und es nachhaltig integrieren. Das Nachschwingen ist diejenige Übungsphase, in welcher der für uns individuelle „Gehalt“ der Übung achtsam „verdaut“ und ins Bewusstsein aufgenommen wird – in der der Atem also erst im eigentlichen Sinne zur bewussten Erfahrung wird.

Winter – sich lösen und ruhen
Bevor wir an eine neue Übung gehen, lösen wir uns ganz von der «alten», indem wir einen Moment lang körperlich und seelisch Pause machen und uns ausruhen. Sind wir in einer Atemgruppe, kann jetzt zum Beispiel ein Austausch im Gespräch entstehen, oder Fragen können geklärt werden. Wir können aber auch einfach «nichts tun» und dieses «NIchts» geniessen! Das Ausruhen ist erfrischend und macht bereit für die nächste Übungssequenz.

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