Buchtipp: «Selbststeuerung» von Joachim Bauer

Selbststeuerung

Können wir Menschen unsere Entscheidungen auf freie Weise selbst treffen – oder sind wir Spielball unserer Umwelt, unserer Arbeitsbedingungen, unserer eigenen Affekte und unbewussten Impulse? In seinem neuesten Buch «Selbststeuerung» geht Joachim Bauer der alten philosophischen Frage nach der menschlichen Willensfreiheit auf modernen neurobiologischen Wegen nach.

Den freien menschlichen Willen bejaht Joachim Bauer, doch beschreibt er ihn nicht als eine im luftleeren Raum existierende, von Anfang an gegebene Fähigkeit, sondern als ein biologisch angelegtes Potenzial, das erst durch soziales Lernen zur Entfaltung gebracht und zur Fähigkeit ausgeformt wird. Und dazu ist es auf günstige individuelle und soziale Rahmenbedingungen angewiesen.

In unserem Gehirn gibt es zwei grundlegende Systeme, die je auf ihre Weise daran mitwirken, wofür wir uns entscheiden und wie wir uns verhalten. Das stammesgeschichtlich ältere ist das Trieb- und Basissystem, das in den Belohnungs- und Angstzentren des Gehirns sowie im Hypothalamus seinen Sitz hat und das die neurobiologische Grundlage für spontane, affekthafte und überwiegend automatisch ablaufende Verhaltensweisen darstellt. Das Basissystem speichert unsere Erfahrungen mit unserer Umgebung, es «merkt sich», was wir mögen, wovor wir Angst haben oder was uns einmal gut geschmeckt hat, und es sorgt dafür, dass wir uns auch bei der nächsten Gelegenheit wieder so verhalten (wollen). Lust und Unlust, die Tendenz, bestimmte Dinge oder Situationen zu meiden sowie die Neigung, einer Versuchung unverzüglich nachzugeben, haben hier ihren Ursprung.

Ob wir uns für – oder gegen – etwas frei entscheiden können, hängt angesichts dieses äusserst motivationskräftigen Basissystems nun vor allem von unserer Fähigkeit ab, uns selbst zu steuern. Dies bedeutet zunächst, zu bestimmten inneren oder äusseren Impulsen auch einmal «Nein» sagen zu können. Wollen wir unsere Entscheidungen frei treffen, ist es unumgänglich zu lernen, den automatisierten «Motivationsbahnen» des Basissystems hemmende, kontrollierende Impulse entgegenzusetzen. Dies versetzt uns beispielsweise in die Lage, Abstand zu unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen zu gewinnen – und damit die Möglichkeit, innezuhalten und uns zu fragen, ob wir das, was sich gerade in uns als Impuls «anbahnt», wirklich wollen. Sitz der Fähigkeit zur Selbststeuerung ist im Gehirn der Präfrontale Cortex, eine evolutionsbiologisch junge Gehirnregion, die sich direkt hinter der Stirn befindet.

Joachim Bauer nennt die Gehirnregion des Präfrontalen Cortex eine «wahre Wunderkiste», denn sie stattet uns mit zahlreichen Fähigkeiten aus, ohne die es keine Wahlmöglichkeiten in unserem Leben gäbe. Unter anderem ermöglicht sie uns, unsere Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu fokussieren, gleichzeitig mehrere relevante Aspekte einer Situation im Blick zu behalten, Ablenkungen auszublenden und die Regeln zu erkennen, denen die Abläufe in unserer Umgebung folgen. Darüber hinaus ist der Präfrontale Cortex der Sitz unserer sozialen Intelligenz – er gestattet uns, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, deren Perspektive nachzuvollziehen, uns vorzustellen, wie unser Verhalten auf Andere wirkt und nachzuvollziehen, wie andere uns wahrnehmen. Im Präfrontalen Cortex erscheinen wir selbst und wichtige andere Menschen als eng aufeinander bezogen – es existiert sogar so etwas wie eine «Kopplung» von Ich und Du. Dieser ist es zu verdanken, dass für uns wichtige Menschen unser biologisches System über den Präfrontalen Cortex erreichen und beeinflussen können – im Guten wie im Schlechten. Ein tröstendes Wort kann Wunder wirken, wenn es uns nicht gut geht – und genau so kann eine verletzende Bemerkung uns hinunterziehen und noch tagelang beschäftigen.

Im Präfrontalen Cortex verbirgt sich das Potenzial, einen freien menschlichen Willen zu entfalten. Ob wir dieses Potenzial zur Entfaltung bringen oder nicht, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für unsere Gesundheit, wie Bauer anhand einer Fülle von Beispielen aufzeigt. Ohne Selbststeuerungsfähigkeiten stehen die Chancen schlecht, wirkungsvolle Wege aus weit verbreiteten gesundheitlichen Problemen wie Übergewicht, Alkoholismus oder Internetsucht zu finden. Leider verschenkt auch die Schulmedizin einen Grossteil ihrer Heilmöglichkeiten, so Bauer, da sie eine grundlegende Quelle unserer Selbstheilungskraft ausser Acht lässt: die Möglichkeit, über das ärztliche Gespräch den Patienten über den Präfrontalen Cortex zu erreichen und dessen «inneren Arzt» zu aktivieren. Denn was sich im Präfrontalen Cortex abspielt, hat Auswirkungen auf die gesamte Biologie des Körpers, vor allem aber auf das Immunsystem und die Selbstheilungskräfte. Es lohnt sich also, etwas für unsere Selbststeuerung zu tun – und als äusserst wirksame Methode zur Stärkung der Selbstkontrolle und zur Zentrierung von Geist und Körper empfiehlt Bauer eine Praxis der Achtsamkeit.

Joachim Bauer: Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. Blessing Verlag, 2015.

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