Wann ist eine Atemübung gelungen?

Atem- und Bewegungsübungen nach Middendorf sind meist sehr einfach und ruhig im Ablauf. Oft handelt es sich dabei um «Urbewegungen», wie sie aus der unbewussten Körperintuition, die in allen Menschen angelegt ist, erwachsen. Das Atemgeschehen kann sich in diese Bewegungen wie in ein Bett «einschmiegen» und sich frei darin entfalten. Ausgeklügelte, schwierig zu haltende Körperstellungen werden dabei nicht benötigt. Die Middendorf-Übungen können denn auch von den meisten Menschen jeden Alters leicht erlernt und ausgeführt werden.

Ungeachtet dieser Einfachheit – oder vielleicht gerade deswegen – hält jede dieser Übungen einen grossen Reichtum an Erfahrungsmöglichkeiten bereit. Mit jedem neuen Üben werden weitere, nach und nach immer gehaltvollere Erfahrungsschichten zugänglich. Jede dieser Erfahrungsschichten hat ihre eigene Stimmigkeit und Gültigkeit. Middendorf-Übungen sind Erfahrungswege, sind Einladungen und «Hinführungen» zu Erfahrungen mit dem eigenen Atem, mit unserem Körper und mit uns selbst.

Diese Erfahrungen können ganz verschiedene Ebenen betreffen. Es kann uns zum Beispiel im Lauf einer Übung zum ersten Mal wirklich spürbar werden, wie angespannt die Muskulatur unserer linken Schulter ist, was wir bisher im Alltag kaum zur Kenntnis genommen haben. Dann kann es eine sehr wohltuende Erfahrung sein, dass sich diese Schulter nach einer weiteren Übung deutlich gelöst hat, weicher geworden und besser durchblutet ist. Eine spätere Übung könnte die Wahrnehmung bringen, dass Schulter und Arm beweglicher und durchlässiger geworden sind und der Arm auf eine lebendige Weise mit der Schulter verbunden ist. Nach weiterem Üben überrascht uns dann vielleicht zu irgendeinem Zeitpunkt die Erfahrung, dass Arm und Schulter von einer sanften, subtilen Bewegung rhythmisch durchströmt werden – der Atembewegung, die wir nun in diesem Körpergebiet erstmals deutlich zu spüren vermögen. Weitere Erfahrungen mit unserer Schulter könnten uns seelisch tief berühren, wenn der Körper unbewusste Erinnerungen und neue Entfaltungsmöglichkeiten freigibt. Oder sie könnten uns auch einfach in eine zeitlose, erholsame, «genährte» Gelassenheit führen…

Erfahrungen sind die Essenz und das Ziel der Atem- und Bewegungsübungen nach Middendorf. Es kommt dabei nicht darauf an, ob wir eine Übung möglichst «schön» oder «formvollendet» ausgeführt haben, sondern darauf, was wir dabei erfahren haben – ob wir auf irgend eine Weise in Kontakt gekommen sind mit uns selbst, unserem Körper, unserem Atem. Und die Eingangsfrage lässt sich in diesem Sinne ganz einfach so beantworten: eine Atemübung ist dann gelungen, wenn wir daran eine Erfahrung gemacht haben.

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