Buchtipp: «Ich fühle, also bin ich», von Antonio R. Damasio

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An einem bestimmten Punkt seiner Forschungstätigkeit über Emotionen stand Neurowissenschaftler Antonio Damasio vor einem Rätsel. Obwohl er bereits viel darüber wusste, auf welche Weise Emotionen im Gehirn hervorgerufen und wie ihre körperlichen Begleiterscheinungen ausgelöst werden, konnte er sich die Frage nicht beantworten, wie die Emotionen schlussendlich dem Organismus, in dem sie sich abspielen, zur bewussten Kenntnis kommen. Wie wissen wir, dass wir etwas fühlen und was wir fühlen? Damasio war auf das «Forschungshindernis Bewusstsein» gestossen – ein Thema, das ihn in der Folge nicht mehr losliess.

Eine körperbezogene Bewusstseinstheorie
In seinem Buch «Ich fühle, also bin ich» entwickelt er eine Bewusstseinstheorie, die das Bewusstsein als einen tief in den körperlichen Lebensregulationsprozessen der Homöostase verankerten und auf sie bezogenen Prozess darstellt. Das Bewusstsein bildet dabei den Schlussstein einer Reihe von evolutionär gewachsenen, lebenserhaltenden Anpassungsleistungen des Organismus, an deren Anfang die Homöostase steht und deren Mitte die Emotionen bilden.

Der Selbst-Sinn im Bewusstsein
An den Anfang seiner Überlegungen stellt Damasio die einfache Feststellung, dass wir, wenn wir uns einer Sache bewusst werden – beispielsweise eines Baumes, der in unsere Wahrnehmung tritt – immer auch zugleich ein Bewusstsein von uns selbst – als dem Wahrnehmenden – haben. Das Bewusstsein unserer selbst, den Selbst-Sinn, sieht Damasio dabei als den im eigentlichen Sinne unverzichtbaren Bestandteil des Bewusstseins an, denn Wahrnehmungen von Objekten oder Emotionen können vom Gehirn – wie Damasio an Fallbeispielen seiner Patienten zeigt – auch ganz unbewusst verarbeitet werden. Ausserdem konstatiert Damasio, dass der Selbst-Sinn diejenige Komponente ist, die im Bewusstsein konstant vorhanden ist, während alle anderen Bewusstseinsinhalte – Wahrnehmungen von Dingen oder Vorstellungen, die in unser Bewusstsein treten – einem raschen Wechsel unterliegen können.

Wie kommt das Selbst ins Gehirn?
Das Bewusstsein als Phänomen, in dem immer auch ein Selbst-Sinn und eine private, subjektive Perspektive mit enthalten ist, auf die der Bewusstseinsprozess zentriert ist, führt Damasio zu der Überlegung, dass eine neurobiologisch fundierte Bewusstseinstheorie zwei Fragen zu lösen hat: erstens, wie entsteht der «Film-im-Gehirn» (beispielsweise die Wahrnehmung eines Gegenstandes), und zweitens, wie erzeugt das Gehirn das Gefühl, dass es einen Wahrnehmenden dieses «Films» – ein Selbst – gibt? In der Folge widmet sich Damasio vor allem der zweiten Frage, und er nimmt seine Leser mit auf die Suche nach denjenigen Gehirnstrukturen, die einen bewusstseinserzeugenden Verarbeitungsprozess leisten können, in dem auch das Selbst erscheint.

Die Homöostase und das Proto-Selbst
Um zu überleben, muss ein Organismus sicherstellen, dass seine Körperzustände weitgehend stabil bleiben. Beispielsweise sollte die Körpertemperatur nicht allzuweit von 37 Grad abweichen und stets eine ausreichende Konzentration von Sauerstoff und anderen gelösten Stoffen im Blut vorhanden sein. Um das innere Gleichgewicht, die Homöostase, aufrechtzuerhalten, empfangen stammesgeschichtlich alte Gehirnregionen fortwährend Signale aus dem Körper, die ihnen den Zustand des inneren Milieus und der inneren Organe signalisieren. Sie bilden diese Körperzustände im Gehirn ab und stellen mittels fein eingestellter Steuerungsmechanismen sicher, dass die empfangenen Werte sich immer in einem lebenszuträglichen Bereich bewegen. In dieser fortwährenden «Selbstabbildung» des Körperzustandes im Gehirn und den völlig autonom und unbewusst ablaufenden Steuerungsmechanismen der Homöostase sieht Damasio den unbewussten Vorläufer des späteren, bewussten Selbst, der einen stabilen, unveränderlichen Bezugspunkt – die zentrierende Perspektive – für den Bewusstseinsprozess bereitstellt. Er nennt ihn das Proto-Selbst. Weitere Beiträge zum Proto-Selbst leisten auf höheren Gehirnebenen somatosensorische Regionen, die im Prozess der Körperwahrnehmung Signale aus dem Bewegungsapparat, dem Gleichgewichtssinn und dem Feintastsinn abbilden.

Wahrnehmungen verändern das Proto-Selbst
Im Lauf einer Wahrnehmung – der Verarbeitung eines Objekts, wie Damasio es nennt – wird das Proto-Selbst in der Interaktion mit dem wahrgenommenen Objekt verändert. Wenn beispielsweise beim Überqueren der Strasse ein Auto auf uns zurast, kommt im Körper eine automatisierte Kaskade von Reaktionen in Gang. Die Position unseres Kopfes und Halses verändert sich, während wir uns zum Auto hin wenden, um es genauer in den Blick zu nehmen. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr signalisiert uns unsere Körperposition im Raum, in Beziehung zum sich nähernden Auto. Unsere Augen vollführen rasche koordinierte Bewegungen, um das Auto dreidimensional im Blick zu behalten, und  die Augenlinsen werden fortwährend neu auf das sich nähernde Auto hin scharf gestellt. Wenn sich ein Auto derart schnell auf uns zubewegt, ruft dies unwilkürlich eine Emotion hervor, die wir Furcht nennen und die sich im Körper als Beschleunigung von Herzschlag und Atmung sowie als Veränderung der Hautleitfähigkeit (Schwitzen) und der Darmperistaltik (Grummeln im Bauch, flaues Gefühl im Magen) zeigt.
Jede Wahrnehmung arbeitet den Organismus – und damit das Proto-Selbst – in einer Reihe von mehr oder weniger intensiven Anpassungen bis in die lebensregulatorischen und emotionalen Prozesse hinein um, sie geht uns buchstäblich «ans Lebendige». Es zeigt sich, dass eine Wahrnehmung weit mehr ist als nur die – beispielsweise visuelle – Repräsentation eines Objekts im Gehirn. In jede Wahrnehmung gehen immer sowohl die Eigenschaften des Objekts ein wie auch die inneren Anpassungsbewegungen des Organismus, die er leistet, indem er das Objekt verarbeitet. In dieser Mehrspurigkeit wird die gemachte Erfahrung mit dem Objekt dann auch im Gedächtnis abgelegt: die Aufzeichnungen des Gehirns speichern gleichermassen die visuellen Eigenschaften eines Hammers wie auch die Mikrobewegungen, die unsere Augen vollführten, als sie die seine Oberfläche abtasteten, und die Form, die unsere Hand annehmen musste, um den Hammer zu ergreifen.

Das Kernbewusstsein
Die Anpassungen, die der Organismus in der Interaktion mit dem Objekt leistet, laufen automatisiert und unbewusst ab. Damit uns die Wahrnehmung des Objekts zur bewussten Kenntnis gelangt, ist ein weiterer Verarbeitungsprozess zweiter Ordnung vonnöten, der nun speziell die Beziehung von Organismus und Objekt abbildet – nämlich die Art, wie das Objekt das Proto-Selbst im Akt des Wahrnehmens verändert. In diesem Verarbeitungsprozess zweiter Ordnung entsteht nach Damasios Theorie der Anfang des Bewusstseins, das Kernbewusstsein. Kernbewusstsein liegt dann vor, wenn im Gehirn ein nicht-sprachlicher «Bericht» erzeugt und dargeboten wird, in dem niedergelegt ist, wie der eigene Zustand des Organismus davon beeinflusst und verändert wird, dass er ein Objekt verarbeitet (es wahrnimmt) – und wenn dieser Prozess wiederum die Wahrnehmung des Objektes verstärkt, so dass es in einem räumlichen und zeitlichen Kontext als «etwas Besonderes» hervorgehoben wird. Innerhalb dieses nicht-sprachlichen «Berichtes» erscheint zugleich mit dem Objekt auch der Selbst-Sinn in bewusster Form: als das Kernselbst, in dessen Perspektive der Bericht erzeugt wird und das der «Eigner» des Berichtes ist. Kernbewusstsein und Kernselbst sind flüchtige Phänomene, die ganz im Hier und Jetzt wurzeln, da sie pulsartig für jedes Objekt, das der Organismus verarbeitet, wieder neu erzeugt werden.

Das erweiterte (autobiografische) Bewusstsein
Das Bewusstsein ist – wie Damasio an spannenden Fallbeispielen seiner Patienten aufzeigt – nicht einheitlich, sondern «modular» aufgebaut, wobei der Grundprozess, ohne den überhaupt kein Bewusstsein möglich ist, das Kernbewusstsein ist. Das Kernbewusstsein schenkt uns die Kenntnis von Vorgängen, die wenige Sekunden Dauer umfassen. Das auf dem Kernbewusstsein aufbauende erweiterte, autobiografische Bewusstsein greift zusätzlich auch auf Daten aus dem umfangreichen Speicher des Gedächtnisses zu, in dem der Verlauf unseres Lebens über eine weite Zeitspanne gespeichert ist. Das autobiografische Bewusstsein stellt dem Hier-und-Jetzt, in dem das Kernbewusstsein lebendig ist, die Dimensionen von Vergangenheit und antizipierter Zukunft an die Seite und stattet unser Kernselbst mit den Details einer autobiografischen Persönlichkeit aus, die weiss, wo sie geboren wurde, wo sie wohnt und wer sie in allen Einzelheiten ist.

Schritt für Schritt
Damasio entwickelt seine Bewusstseinstheorie Schritt für Schritt und stützt seine theoretischen Überlegungen auf zahlreiche Fallbeispiele aus seiner eigenen klinischen Praxis sowie auf andere neurologische Forschungsergebnisse ab. Wie sich im Lauf der Darlegungen zeigt, befinden sich die für das Kernbewusstsein absolut unverzichtbaren Hirnstrukturen nicht etwa im hochentwickelten Neocortex, sondern in weitaus älteren Regionen wie beispielsweise dem Hirnstamm. Am Schluss des Buches wundert kaum noch, dass in den gleichen Regionen und eng verzahnt mit den Bewusstseinsprozessen auch die Regulationsmechanismen der Homöostase sowie die Verarbeitung der Emotionen stattfinden.

Das Buch ist ungeachtet seiner komplexen Thematik in klarer, allgemeinverständlicher Sprache geschrieben. Für am Atem Interessierte eröffnen Damasios Ausführungen einen neurobiologisch fundierten Beschreibungsrahmen, innerhalb dessen nochmals gehirnspezifisch präzise nachvollzogen werden kann, auf welchen lebensregulatorischen, somatopsychischen und bewusstseinsverarbeitenden Ebenen Atemarbeit nach Middendorf – und andere achtsamkeitsbasierte Körpertherapien –  ihre Wirksamkeit entfalten.

Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. List-Verlag, 9. Auflage 2011

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