Buchtipp: «Schmerzgrenze», von Joachim Bauer

Wie wird aus gesunder Aggression – Abgrenzung gegen Verletzungen der körperlichen oder seelischen «Schmerzgrenze» – Gewalt? In seinem Buch «Schmerzgrenze» beleuchtet Joachim Bauer diese Frage aus neurobiologischer Sicht. Den von Sigmund Freud postulierten «Aggressionstrieb» stellt er in Abrede. Aggression ist, so zeigen Experimente, nicht Teil des Motivationssystems – also kein «Trieb», der uns zu etwas per se Erstrebenswertem hintreibt – sondern ein biologisch verankertes, reaktives Schutzprogramm, das erst dann anspringt, wenn wir bedroht sind bzw. uns bedroht fühlen. «Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert, wird Aggression ernten», so Bauer.

Zu den menschlichen Grundmotivationen – Triebzielen also, die in der Lage sind, das Motivationssystem im Gehirn zu aktivieren – zählen soziale Akzeptanz, Integration in eine menschliche Gemeinschaft, Vertrauen, Kooperation und Fairness. Auch dies ist biologisch-evolutionär gewachsen: ein Ausschluss aus der Gruppe der Artgenossen bedeutete für unsere Vorfahren in grauer Vorzeit das sichere Todesurteil. Auf diesem Hintergrund macht ein erstaunliches Ergebnis neurobiologischer Forschung Sinn: die gleichen Schmerzzentren des menschlichen Gehirns, die auf körperlichen Schmerz reagieren, werden auch dann aktiv, wenn ein Mensch sozial ausgegrenzt oder gedemütigt wird. Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft ist aus Sicht des Gehirns gleichbedeutend mit Schmerz und Bedrohung, und sie aktiviert den «Aggressionsapparat». «Aggression wird erzeugt, wenn wichtige zwischenmenschliche Bindungen fehlen oder bedroht sind», schreibt Bauer.

Was geschieht im Gehirn, wenn wir uns bedroht fühlen – aus welchen Komponenten besteht der neurobiologische «Aggressionsapparat»? Bei Bedrohung reagieren zuerst die ältesten Teile des Gehirns, das so genannte «Reptiliengehirn». Angst- und Ekelzentren werden aktiviert, das Stresszentrum und das vegetative Erregungszentrum springen an, um die für die Abwehr nötige Reaktionsfähigkeit bereitzustellen. Wären wir Reptilien, käme es jetzt bereits zu einer sofortigen aggressiven Reaktion. Bei Säugetieren und insbesondere dem Menschen sind der aggressiven Reaktion jedoch hemmende, kontrollierende Zentren «vorgeschaltet». Bevor die Aggression zum Ausdruck kommt, durchlaufen die Aggressionsimpulse den präfrontalen Cortex, eine Gehirnregion, die in der Lage ist, abzuwägen, wie eine aggressive Reaktion auf unser Gegenüber wirken würde – wie es sich dabei fühlen würde – und was die (sozialen) Folgen für uns selbst wären. Hier erfährt der Aggressionsimpuls eine Modifikation, meist im Sinne einer Mässigung, die geeignet ist, den Abwehr-Impuls mit der Umwelt abzustimmen und ihn in ein kommunikatives Signal umzusetzen.

Welche Faktoren tragen nun dazu bei, dass Aggression die Grenze vom konstruktiven Schutzprogramm, als das sie biologisch angelegt ist, zur destruktiven Gewalt überschreitet? Aggression wird dann destruktiv, wenn sie nicht mehr als aufmerksam machendes Signal wahrgenommen werden kann, das anzeigt, dass und warum eine «Schmerzgrenze» überschritten wurde – wenn sie also ihren kommunikativen Charakter, der auch den Empfänger der Botschaft mit einbezieht, verliert. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Aggression überhaupt nicht ausgedrückt wird, und ebenso auch, wenn sie zeitverschoben (erst im Nachhinein), am falschen Ort oder gegenüber einer anderen Person als der, die die ursprüngliche Verletzung ausgelöst hat, ausgedrückt wird. Alle diese «Aggressionsverschiebungen» verwischen den ursprünglichen Kontext, in dem die Aggression signalgebend Sinn macht, lassen sie unverständlich und «unbegründet» erscheinen und sind daher geeignet, die Fronten zu verhärten und einen «Cycle of violence» in Gang zu setzen.

Joachim Bauer: Schmerzgrenze – vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Wilhelm Heyne Verlag, 2013.

Nach oben scrollen