Welche Einflüsse wirken auf unseren Atem?

Unser Atem ist mit allem verbunden, was uns betrifft, was wir erleben und tun, und er reagiert sensibel angepasst auf jeden Wirkungsimpuls aus Körper, Geist und Seele.

Diese Einflüsse wirken auf den Atem:

Körperbewegungen wirken unmittelbar auf den Atem ein. Bewegungsrezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken melden den jeweiligen Sauerstoffbedarf an das Atemsteuerungszentrum. Bei körperlichen Anstrengungen wie Treppensteigen, Rennen oder Krafttraining brauchen wir mehr Sauerstoff – wir atmen schneller und tiefer. Langsame, rhythmische Bewegungen, wie sie z.B. bei Atemübungen ausgeführt werden, lösen Muskeln und Gelenke und wirken auf diese Weise regulierend und harmonisierend auf den Atemrhythmus ein.

Körperwahrnehmungen (Empfindungen) wie Wärme, Kälte, Schmerz, Berührung beeinflussen unseren Atem. Ein Sprung ins kalte Wasser kann uns «den Atem verschlagen», eine wohltuende Massage oder ein weiches Dehnen des Körpers kann den Atem lösen und befreien.

Sprechen und Singen geschieht mit Hilfe des Ausatemstroms, der dabei willentlich geformt und moduliert wird. Jeder Laut – ob Vokal oder Konsonant – wirkt anders auf den Ausatemstrom und auf die an der Lautbildung beteiligten Körperräume und Muskulaturen ein. In der Atemarbeit nach Middendorf werden diese sehr differenzierten Wirkungen der Lautbildungen auf den Atem bewusst erübt und erfahren. Am deutlich bewegten Brustkorb und Bauch beim Opernsänger nach dem Gesangssolo wird der auch körperlich starke Einfluss der Lautbildung auf den Atem unmittelbar sichtbar. In der vom Atem getragenen und gestalteten Stimme drücken sich immer auch Stimmungen und Gefühle aus, der ganze Mensch schwingt mit. Atem ist Kommunikation.

Die Körperhaltung und der Spannungszustand der Skelett- und der Atemmuskulatur haben entscheidenden Einfluss darauf, wieviel Raum überhaupt für die Atembewegung zur Verfügung steht. Wenn wir mit rundem Rücken und verspannter Nacken- und Halsmuskulatur vor dem Computer sitzen, werden Zwerchfell und Brustraum komprimiert und eingeengt, der Atem kann sich wenig Raum nehmen und das freie Schwingen der Atembewegung wird stark eingeschränkt. Probieren Sie es aus!

Das vegetative (autonome) Nervensystem beeinflusst den Atem und andere wichtige Organsysteme. Das sympathische und das parasympathische Nervensystem wirken hierbei als «Gegenspieler» zusammen. Das sympathische Nervensystem macht uns wach und aktiv, es erhöht Blutdruck, Pulsrate, Muskeltonus und Atemfrequenz, es stellt die Blutgefässe eng und die Bronchien weit, um eine erhöhte Energieversorgung zu ermöglichen. Das parasympathische Nervensystem macht uns ruhig und fördert Regenerationsprozesse und Erholung, es senkt Blutdruck und Pulsrate, die Blutgefässe werden weit, die Muskulatur entspannt sich und der Atem fliesst in einem ruhigeren Rhythmus.

Auch Hormone haben einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf den Atem. Hormone sind körpereigene Botenstoffe, die zusammen mit dem Nervensystem die Steuerung lebenswichtiger Prozesse sicherstellen. Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol erhöhen unsere Wachsamkeit und Aktionsbereitschaft, sie machen den Körper bereit für Kampf oder Flucht. Sie wirken beschleunigend auf den Herzschlag, denn um aktiv zu sein, wird mehr Sauerstoff benötigt, und auch der Atem beschleunigt und vertieft sich. Der Neurotransmitter Serotonin spielt eine zentrale Rolle bei der Atemsteuerung und der Übertragung des Einatem-Impulses ans Zwerchfell. Hormonschwankungen bei Frauen (Menstruation, Wechseljahre) können zu lästigen Beschwerden wie Schlafstörungen und Hitzewallungen führen. Das im weiblichen Zyklus bedeutsame Hormon Östrogen spielt ausserdem eine wichtige Rolle für die Atmung, denn es stellt die Bronchialmuskulatur weit, was den Einatem unterstützt.

Emotionen wirken direkt auf unseren Atem ein und drücken sich durch ihn aus. In der Angst zieht sich der ganze Mensch zusammen, der Atem wird flach und klein. Ein Schrecken lässt uns den Atem stocken, wir ziehen ihn abrupt ein und halten ihn dann an. In der Traurigkeit löst sich unser Atem im Schluchzen, in der Freude im Lachen (beides wirkt lösend auf das Zwerchfell). Sind wir müde oder energielos, überfällt uns ein Gähnen, das uns durch die dabei entstehende Atemvertiefung wieder mehr Energie zuführt. Wut kann den Atem ungemein beleben, energisches Atemholen dient zum Aufblähen des Brustkorbs, um sich in Positur zu setzen, und unser Abscheu äussert sich in verächtlichem Schnauben. Wenn wir etwas innerlich loslassen, in der Entspannung oder in der Resignation, entfährt uns ein entlastender Seufzer, und unsere prüfende Neugier drückt sich im Weiten der Nasenflügel, im Schnuppern und Schnüffeln aus.

Schon immer wusste man um die engen Wechselwirkungen des Atems mit mentalen Zuständen, mit Gedanken und Vorstellungsbildern. Wir können selbst beobachten, welche Wirkungen enge, reflexhafte, von Angst und Sorge durchsetzte Gedankenbilder auf den Atem haben, und welche Wirkungen weite, möglichkeitenreiche und zuversichtliche Gedanken. In vielen Traditionen wird der Atem als Tor zur Meditation, zum Stillwerden und zum Wesentlichen angesehen und Atemübungen als Weg dazu eingesetzt. Auch die Atemarbeit nach Middendorf stellt mit der Schulung des Körperempfindens, der Sammlung und dem Zulassen des natürlichen Atems einen meditativen Entwicklungsweg zum Wesentlichen im Sinne der Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung bereit.

Nach oben scrollen