Stress und die Muskulatur

Wenn wir auf physische oder psychische Anforderungen reagieren müssen, die wir als «ernst» oder «bedrohlich» einstufen, stellt uns unser Organismus durch eine Reihe von physiologischen Veränderungen mehr Energie, mehr Wachheit und mehr Kampfbereitschaft zur Verfügung. Stresshormone werden ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, die Atmung intensiviert sich, und die Muskulatur erhöht ihre Spannung, um sofort reaktions- und leistungsbereit zu sein.

Diese Bereitstellungs- und Stressreaktion ist eine biologisch sinnvolle Antwort unseres Organismus auf die Situation. Sie setzt uns in die Lage, auf die Anforderung so zu reagieren, dass wir die Bedrohung abwenden und uns schützen können: wir greifen an (Kampf), wir entfernen uns (Flucht), und wenn beides nicht möglich ist, halten wir uns still – wir erstarren und warten, dass die Gefahr irgendwann «von selbst» vorüber ist.

Sobald die Situation, um die es geht, durch unsere Kampf- oder Fluchtreaktion für uns befriedigend gelöst und die Bedrohung wirksam abgewendet werden konnte, gibt es für unseren Körper keinen Grund mehr, im Stressmodus zu bleiben. Das Gehirn sendet an den Organismus das Signal, dass die Gefahr vorüber ist, und die physiologisch-muskuläre Anspannung wird wieder abgebaut bis zum Normalzustand. Damit ist die Stress-Situation für den Organismus abgeschlossen und vorbei – wir haken das Ereignis innerlich als «gelöst» ab und entspannen uns.

Gelingt das Abwenden der Bedrohung, das Lösen der Situation jedoch nicht, bleibt der Organismus in einem Dauerzustand der Anspannung «gefangen» und kann die Stressreaktion nicht mehr herunterfahren. Unser Körper verharrt im Bereitschaftsmodus, da er immer wieder vom Gehirn das Signal erhält, dass die Stress-Situation noch nicht vorbei ist und nach wie vor auf der Tagesordnung steht. Auch der Anspannungszustand der Muskulatur bleibt dauerhaft bestehen.

Chronische muskuläre Anspannung kann beispielsweise dann entstehen, wenn ein Stressfaktor über längere Zeit auf uns einwirkt, ohne dass wir auf ihn Einfluss nehmen und ihn verändern können. Ein festgefahrener physiologischer Stressmodus mit chronischen muskulären Spannungen kann sich ausserdem nach einem Trauma im Rahmen einer posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) manifestieren.

Besonders anfällig für stressbedingte Dauerverspannungen sind die Schulter-, Nacken- und Kiefermuskulatur, die Rückenmuskulatur und der Grosse Lendenmuskel (M. Psoas Major, siehe Bild rechts). Der Psoas-Muskel verläuft tief im Körperinneren vom 12. Brustwirbel und der Lendenwirbelsäule bis zur Innenseite des Oberschenkelknochens und ist der wichtigste Hüftbeugermuskel. Er ist über Faszienstränge mit Beckenboden und Zwerchfell verbunden und übernimmt wichtige Funktionen beim Gehen sowie bei der Stabilisation von Becken und Wirbelsäule. Im Moment von Gefahr und Bedrohung ist es in erster Linie der Psoas-Muskel, der Flucht oder Kampf ermöglicht oder, wenn dies nicht möglich ist, sich reflexhaft zusammenzieht und so unsere Körpermitte in eine Schutzhaltung («Embryo-Stellung») bringt, die die verletzliche Körperinnenseite und wichtige Bauch- und Brustorgane schützt. Der Psoas-Muskel wird wegen seiner zentralen Rolle bei der Kampf-Flucht-Reaktion auch der «Trauma-Muskel» genannt.

Ein stressbedingt chronisch zusammengezogener Psoas kann sich verkürzen, was zu einer beeinträchtigten Zwerchfellatmung, Rückenschmerzen, Fehlhaltungen der Wirbelsäule und Bewegungseinschränkungen beim Gehen führen kann. Die TRE®-Übungen wurden so entworfen, dass sie gezielt und sanft den Psoas-Muskel ansprechen, dort den Zitterprozess aktivieren und es dieser tiefliegenden Muskelschicht ermöglichen, ihre schützende Spannung loszulassen. Ausgehend vom Psoas sucht sich der Zitterprozess im Körper nach und nach seinen Weg in weitere verspannte Muskulaturen, Schritt für Schritt immer dorthin, wo es gerade nötig ist, Spannung loszulassen.

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